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Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860)

Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg-Ampringen wurde am 4. November 1774 als einer der drei Söhne des Prinzenerziehers Johann Philipp Karl von Wessenberg (1717-1794) und seiner Gemahlin Maria Walburg von Thurn-Valsassina (1741-1781) in Dresden geboren. Seine Jugend verbrachte er auf dem elterlichen Stammsitz in Feldkirch bei Freiburg im Breisgau, wohin seine Familie 1776 zurückgekehrt war. Hier empfing er unter der Obhut seines Vaters eine den aufgeklärten Bildungsidealen geöffnete Erziehung. 1790-1792 besuchte er das Gymnasium der Exjesuiten bei St.Salvator in Augsburg – zusammen mit seinem älteren Bruder dem späteren österreichischen Staatsmann Johann Philipp von Wessenberg (1773-1858). In den Jahren von 1793 bis 1797 widmete er sich an den Universitäten von Dillingen, Würzburg und Wien philosophischen, theologischen und juristischen Studien.

Bedeutsam für Wessenbergs weitere Laufbahn wurde die Begegnung mit Karl Theodor von Dalberg (1744-1817). Nachdem dieser 1800 Fürstbischof von Konstanz geworden war, berief er Wessenberg, seit 1793/94 Domherr in Augsburg und Konstanz, zu seinem Generalvikar. Im Auftrag Dalbergs erfüllte Wessenberg zunächst eine diplomatische Mission bei der 1798 konstituierten Helvetischen Republik. Bei den Verfassungsberatungen der Tagsatzung im Herbst 1801 in Bern setzte er sich mit Erfolg für die Sicherung des kirchlichen Besitzstandes und der kirchlichen Rechte im schweizerischen Teil des Bistums Konstanz ein, wofür ihm auch die Anerkennung  Papst Pius VII. (1800-1823) zuteil geworden ist.

Als Wessenberg im Frühjahr 1802 die Verwaltung des ausgedehnten Bistums Konstanz übernahm, stand die Säkularisation unmittelbar bevor. Während Dalberg - seit 1802 auch Erzbischof von Mainz und Kurerzkanzler des Heiligen Römischen Reiches, seit 1806 Fürstprimas des von Napoleon geschaffenen Rheinbundes - seine Kräfte der Neuordnung der in Trümmern liegenden katholischen Kirche Deutschlands widmete und sich für das Zustandekommen eines Reichskonkordats, nach dem Ende des Alten Reiches 1806 für ein Rheinbundkonkordat bemühte, war Wessenberg mit seinem Amtsantritt als Konstanzer Generalvikar und Präsident der Geistlichen Regierung in jene Stellung getreten, in der er eigenem Zeugnis zufolge seinen Lebensberuf erkannte: "Eine wahre Verbesserung der kirchlichen Zustände war die höchste Idee, für deren Verwirklichung ich mir Sinn und Kraft zutraute."

Tatsächlich entfaltete Wessenberg während seiner fünfundzwanzigjährigen Tätigkeit als Generalvikar (1802-1815) und Verweser (1817-1827) des Bistum Konstanz eine vielseitige und lange nachwirkende reformerische Wirksamkeit in der Tradition der Katholischen Aufklärung. Entscheidend beeinflusst war er dabei von seinem Lehrer und Freund Johann Michael Sailer (1792-1832), der an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf zahlreiche Priester und Laien im deutschsprachigen Raum prägend gewirkt hat. Während seiner ganzen Amtszeit hat Wessenberg in seinen Anstrengungen nie nachgelassen, die Geistlichen des Bistums Konstanz im Sinne seiner Reformvorstellungen zu aktivieren und einen solide gebildeten, geistlichen und seelsorgerlich hochmotivierten Klerus heranzuziehen. Dabei suchte der Generalvikar insbesondere die schon in der Seelsorge stehenden Geistlichen in einem Höchstmass weiter zu bilden und zu formen, überzeugt, dass nur ein sich permanent um Bildung der Gesamtpersönlichkeit bemühender Klerus den seelsorgerlichen und kulturell-gesellschaftlich Anforderungen einer in raschem Wandel sich befindlichen Zeit gewachsen sei. Um die Fortbildung der Priester auf Dauer zu sichern, verpflichtete er die Geistlichen seines Bistums, sich in regelmässigen Abständen zwei- bis dreimal jährlich zu sogenannten Pastoralkonferenzen zu versammeln, um in gemeinsamem Austausch jeweils ein Thema aus dem weiten Feld pastoraler Tätigkeit zu behandeln. Dabei musste jeder Teilnehmer eine schriftliche Arbeit vorlegen, die anschliessend dem Generalvikariat zur Einsicht zuzustellen war. Die besten Arbeiten wurden laufend in der von Wessenberg redigierten Zeitschrift Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz (1804-1827) veröffentlicht. Im Bereich der Priesterfortbildung hat Wessenberg damit eigentliche Pionierarbeit geleistet, zumal Pastoralkonferenzen sich im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Instrument priesterlicher Fortbildung entwickelten.

Parallel zur Priesterfortbildung lief Wessenbergs Bemühen um eine umfassende Erneuerung der Seelsorge, die er vor allem durch eine Reform der Liturgie und durch eine Aufwertung der Wortverkündigung zu erreichen suchte. Mit seinen in ihrer Mehrheit wegweisenden liturgischen Reformen hat er manches vorweggenommen, was erst wieder durch die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) als richtig anerkannt und bestätigt worden ist. Inhaltliche Parallelen zeigen sich besonders im Bemühen um eine einfache, verständliche Liturgie, an der die Gläubigen aktiv Anteil nehmen können, in der Aufwertung der Wortverkündigung, in der weitgehenden Einführung der Volkssprache bei der Sakramentenspendung, in der Förderung der Heiligen Schrift. Ähnliches gilt für seine Betonung des Bischofsamtes, seine konfessionell irenische Gesinnung, seine grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt und Kultur seiner Zeit. Bleibende Bedeutung gewann die Einführung der bis in die Gegenwart lebendig gebliebenen deutschen Vespern (1809) sowie die Herausgabe des ersten Konstanzer Bistumsgesangbuches (1812), das sich während des ganzen 19. Jahrhunderts grosser Beliebtheit erfreute (32. und letzte Auflage 1870) und den späteren diözesanen Gebets- und Gesangbüchern zum Vorbild gereichte. Selber verfasste Wessenberg geistliche Texte und Lieder, wie beispielsweise das Heilig-Geist-Lied Geist der Wahrheit, Geist der Liebe.

Leitbild und Mittelpunkt der Seelsorge bildete die Pfarrei, die Wessenberg nach Möglichkeit zu stärken suchte. Ausserordentlicher Seelsorge jedwelcher Art stand der Generalvikar deshalb reserviert gegenüber und suchte - um den Pfarrgottesdienst aufzuwerten - das "Auslaufen" des Kirchenvolkes in Klosterkirchen oder zu Wallfahrten, auswärtigen Festen, Patrozinien und Bruderschaften möglichst ein­zuschränken. Dabei lehnte er, wie neue Untersuchungen belegen, die überkommenen Formen der baroken Volksfrömmigkeit, wie sie in Wallfahrten, Bittgängen und Bruderschaften ihren Ausdruck fanden, keineswegs grundsätzlich ab; er kämpfte jedoch gegen eine routinehafte, "mechanische" Frömmigkeit an und war bestrebt, Missstände und Auswüchse bei Bittgängen und Wallfahrten zu beseitigen (insbesondere verbot er das oft mehr zur Zerstreuung als zur seelischen Erbauung unter­nommene "Auslaufen" über Nacht). Viel lag ihm ausserdem an der Förderung des Schulwesens und an einem einträchtigen Zusammenwirken zwischen Kirche und Staat.

            Gegen Wessenbergs Reformen formierte sich aber auch rasch eine Gegnerschaft, die seine Reformen aus unterschiedlichen Motiven bekämpfte. Ihre Klagen fanden beim Luzerner Nuntius Fabrizio Sceberras Testaferrata (1758-1843) und der Römischen Kurie Gehör. Namentlich in der Innerschweiz verbanden sich politisch reaktionäre Kräfte mit dem Luzerner Nuntius, der alles daransetzte, die Schweiz dem Einfluss des Konstanzer Generalvikars zu entziehen. Sie bewirkten, dass Papst Pius VII. die Trennung der Schweizer Quart vom Bistum Konstanz durch die Bulle Iucundissima nos vom 7. Oktober 1814 in Aussicht stellte und der Nuntius diese auf den 1. Januar 1815 vollzog, noch ehe die in der Bulle genannten Bedingungen für eine künftige Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse in der Eidgenossen­schaft erfüllt waren. Wessenberg weilte zur selben Zeit auf dem Wiener Kongress (1814/15), um dort als bevollmächtigter Vertreter des Fürstprimas Dalberg für eine Neuorganisation der deutschen Kirche unter Führung eines Primas und für den Abschluss eines alle deutschen Staaten umfassenden Konkordats mit dem Heiligen Stuhl zu wirken. Seine (wie auch Dalbergs seit 1803 unternommenen) Bemühungen liefen ins Leere. Sie scheiterten am Partikularinteresse sowohl der Landesherren als auch der Römischen Kurie. Die Landesherren strebten ihrer je eigenen Gewalt unterworfene Landesbistümer an, der Römischen Kurie war eine geeinte deutsche Kirche mit primatialer Führung, wie überhaupt das Fortleben reichskirchlicher Strukturen, unerwünscht.

            Unterdessen enthob Dalberg Wessenberg am 25. Januar 1815 formell seines Amtes, wie dies ein päpstliches Breve vom 2. November 1814 ultimativ verlangt hatte. Im Gegenzug ersuchte Dalberg den Papst um die Ernennung Wessenbergs zu seinem Weihbischof und Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge in Konstanz (September 1815), ohne darauf eine Antwort zu erhalten. Als das Konstanzer Domkapitel nach Dalbergs Tod (+ 10. Februar 1817) Wessenberg zum Konstanzer Kapitularvikar und Bistumsverweser wählte, erklärte Pius VII. die Wahl wider alles Herkommen als nichtig. Wessenberg reiste hierauf im Sommer 1817 zu seiner Rechtfertigung nach Rom. Es gelang ihm, die meisten der gegen ihn erhobenen Vorwürfe als Verleumdungen zu entkräften, wollte aber nicht, wie verlangt, einen allgemeinen Widerruf leisten und auf das Kapitularvikariat verzichten. Dies verbat ihm seine in der Tradition der Reichskirche wurzelnde "episkopalistische" Gesinnung, die - wie sich zeigte - den eigentlichen Stein des Anstosses bildete. Hier stiessen zwei in verschiedenener Tradition gründende Kirchenverständnisse aufeinander. Ohne Ausgleich schied er von Rom.

Gestützt durch die badische Regierung behielt Wessenberg die Verwaltung des Bistums Konstanz vorläufig bei, wenn auch von Rom nur mehr geduldet. Sein kirchliches Schicksal entschied sich, als im Zuge der nach dem Wiener Kongress einsetzenden Neuordnung der katholischen Kirche Deutschlands 1821 das Bistum Konstanz supprimiert und die Oberrheinische Kirchenprovinz errichtet wurde. Die Versuche, ihn als Erzbischof von Freiburg oder Bischof von Rottenburg in Vorschlag zu bringen, scheiterten.

Nach der Einsetzung des ersten Freiburger Erzbischofs 1827 zog sich Wessenberg ins Privatleben zurück. Er widmete sich gelehrten Studien (z.B. „Die grossen Kirchenversammlungen des 15. und 16. Jahrhunderts“, 4 Bde., Konstanz 1840), pflegte einen ausgedehnten Briefwechsel über die Konfessionsgrenzen hinweg und unternahm Reisen durch ganz Europa. Wenig bekannt sind seine Aktivitäten als Förderer von Künstlern, allen voran der deutschen Malerin Marie Ellenrieder (1791-1863), und sein soziales Engagement. Unter anderem gründete er 1855 eine "Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Mädchen", die unter veränderter pädagogischer Zielsetzung als "Wessenberg-Sozialzentrum" bis heute fortbesteht. Hochbetagt starb er am 9. August 1860 in Konstanz und wurde im linken Seitenschiff des Konstanzer Münsters beigesetzt.

Die kirchenpolitische und theologische Entwicklung des 19. Jahrhunderts ist Wessenbergs Denken und Handeln entgegengesetzt verlaufen, was ihn aus der Sicht einer ultramontanen Geschichtsschreibung zu einer der umstrittensten Persönlichkeiten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden liess. Erst heute setzt sich aufgrund intensiver Auseinandersetzung mit den Quellen und im Lichte des Zweiten Vatikanischen Konzils eine grundlegende Neubewertung durch.

Franz Xaver Bischof