Vortrag in Zurzach

H

Verdienst und Gefühl

Über einen Adel des Schweizertums

von Prof.  P.H. v. Wessenberg

 

Die Schweiz ist in Europa, nicht wie das Loch im Käse, sondern wie Gott im Gehirn! Die Gehirnforschung sagt „Gott wohnt im Scheitellappen“ oder ein anderes Schlagwort „Why god won´t go away“ von einem New Yorker Neurowissenschafter. Ich frage: „Why Europe won´t go away?“ Mit dieser provokanten Frage zitiere ich aus dem Kopf: „Diese starrsinnigen Schweizer machen da sicher nicht mit!“  Das sind Worte, die nicht über Blocher und Gefährten im Jahre 2003 bezüglich der EU ausgesprochen wurden, nein, es ist ein Ausspruch meines 4-fachen Urgroßvaters Johann Philipp von Wessenberg, den er irgendwann in der Mitte des 19. Jahrhunderts getan hat. Das Zitat stand auf einem Zettel, wo leider ein Teil fehlte, nämlich die Datierung und der genaue Ursprung, der Ort und der Zusammenhang des Ausspruchs. Und das ist auch gerade typisch für die Geschichte im Allgemeinen. Wir gehen auf die Vergangenheit zu, wie in einen Supermarkt, wo wir genau zu wissen glauben, dass dort in diesem Regal das oder jenes zu finden ist. Und dann irren wir herum und finden die gesuchte Würze des Lebens nicht! Auch wenn wir fragen, dann kommt oft die Antwort, dass zum Beispiel der gewünschte Pfefferstreuer erst wieder nächste Woche da ist. Also – so wie die Wirtschaft auch die Wissenschaft. Es muss produziert, transportiert, geliefert werden: die Würze des Lebens und das Wissen um die Vergangenheit.

Nun wenn wir auf das Thema zusteuern, welches Ihnen verehrtes Publikum angekündigt wurde, nämlich die so genannte „Mediation“, dann kann ich Ihnen gleich vorweg sagen: So viele Mediatoren, wie dieses Ereignis aus dem Winter 1802/1803 in diesem Lande monatelang erfahren hat, so viel vermittelnde Arbeit - Aufklärung hat nie eine Regierung vorher gemacht und so viel Produktwerbung hat auch vielleicht Migros noch nie gesehen. Napoleon war einfach omnipräsent! Seine Präpotenz schlug sich auf alles nieder, vom Blätterwald, den Zeitungen und den anderen visuellen Medien. Und warum dies – all dies warum!? Einfach wegen der Existenz, wegen der Beständigkeit, wegen des Dauerns, wegen der Zeit, wegen des Erfolgs einer Geschichte, wegen der Geschichte, wegen der Erfolgsgeschichte,  die sichtbar 200 Jahre lang Grenzen gezogen hat und damit eine Sicherheit und eine Einfachheit darstellt. Den Kanton Aargau! Und dann noch die Schweiz und den darin saturiert konsolidierten Aargau – auf Deutsch heißt Saturieren nach dem Brockhaus: sättigen, aber es heißt auch neutralisieren! Und Konsolidieren heißt: befestigen, begründen, sicherstellen, aber es heißt auch: zu einer Gesamtheit vereinigen.

Sie wissen wovon wir sprechen: von den Freiämtern, der Grafschaft Baden, den ehemaligen Untertanengebieten, den Berner Machtgelüsten, dem Fricktal und so fort und so weiter... Oder vielleicht doch besser genauer gesagt:

Herrschaft, Politik und Verfassung des heutigen Gebietes Aargau, das sah zwischen 1415 und 1798  so aus:

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gehörte das Fricktal zu Vorderösterreich. Und auch bis zur Revolution von 1798 konnten die geistlichen Herren des Bistums Konstanz ihr ehemals vom Kloster Reichenau stammendes Herrschaftsgebiet zwischen Rhein und Aare bis über den nördlichen Teil der Grafschaft Baden behaupten. Vorher, nach dem 2. Villmergerkrieg, erfolgte 1712 die Trennung in die Oberen und Unteren Freien Ämter. Die Grafschaft Baden und damit Zurzach unterstanden den reformierten Orten Bern und Zürich. Das vorige Hin und Her von eidgenössischen Eroberungen, Rückgabe, Übernahmen von Hoheitsrechten, Ausweitung und Einengung von Verwaltungsgrenzen geht über Bern, Affoltern, Luzern, das Michelsamt und so weiter-

Und jetzt die Wessenberg, die von Wessenberg. Wie kommen die da hin, wo kommen die daher? Zuerst einmal das Territorium und dann die Herren:

Von 1425 bis 1499 teilten die Eidgenossen ihre Eroberungen auf dem heutigen Aargau folgend auf: Bern behielt den Unteraargau, besetzte die Herrschaft Biberstein, kaufte die Niedergerichte Urgiz, Bözen, Effingen und Elfingen. Und last not least – es übernahm die Herrschaften Schenkenberg und wohl aufgemerkt Wessenberg. War die Herrschaft Wessenberg nur die Burg bei Mandach? Nein, unter vielen anderen waren es auch z.B. die Vogtgüter und Vogtleute zu Böttstein etwa, wie der aargauische Archivar und Historiker Merz für das Jahr 1400 vermerkt: „ze Bötzstein die kleinen gericht un all gotzhusslüt sant Fridlis und die frigen lüt da selb mit stür, diensten und aller gehorsam.“

Nun zu den Herren von Wessenberg, die zwar materiell aus dem damaligen Aargau angeblich ausschieden, aber sich geistig nie verabschiedet haben und werden.

Zuerst einmal ein wieder der Ersterwähnte – der in diesem Jahr, ja in diesem Monat seinen 230. Geburtstag feiernde Johann Philipp, aber diesmal mit Quelle und Datum: Er schrieb an seinen langjährigen Mitarbeiter Isfordink-Kostnitz von Freiburg i.Breisgau, am 9. April 1857, eine bedeutende Erwähnung zur Geschichte der Schweiz und des Aargaues: In der Neuenburger Frage –(die Geschichte um das preußische Feudalrelikt in der Schweiz!) geht es um den Titel eines Fürsten von Neuenburg. Johann Philipp von Wessenberg verweist in dem Brief auf den Wiener Kongress, in dessen Verlauf er mithalf die älteste Besitzung der Habsburger, nämlich das Fricktal, von Österreich zu trennen, und noch viel mehr; er schrieb: der österreichische Kaiser verzichtete gleich auf alle in diesem Zusammenhange stehenden Titel! Das ist zu der gleichen Zeit, in welcher man nur von Metternich und seiner Allmacht zu sprechen gewohnt ist, das ist eine sehr bemerkenswerte Sache! Warum? Weil wir hier auf die sehr eigenständige und eigenwillige Vorgehensweise Wessenbergs hinzielen können. Er hatte Einfluss und er nahm ihn auch wahr und nutzte ihn beim Kaiser, er nutzte ihn für die Schweiz und den Aargau. Und ich komme auf noch ein Zitat, wo dieser Vorfahre von mir als Außenminister und Ministerpräsident Österreichs im Jahre 1848, einem ehemaligen Amtskollegen aus seiner Zeit, dem Baron von Doblhoff+ anlässlich dessen geplanten Reise in die Schweiz im Jahre 1852 die Reiseroute vorgab  und zwar mit den Worten: „Ich bin in diesem Land zu Hause!“

Der aus einem uralten Geschlecht – nach allen bisherigen Erkenntnissen - alter burgundischer Schwertadel, der sich in den Gebieten des Aargaues, Sundgaues und Breisgaues im Laufe von vielen Jahrhunderten nachweislich seit dem 11. Jahrhundert ausgebreitet hatte – stammende Johann Philipp liebte und verehrte nicht nur die Schweiz, sondern er wurde auch von den wichtigsten Vertretern dieses Landes verehrt. Bevor wir den Parade-Aargauer, die Nummer 1 unter all den berühmten Aargauern dieses Jubiläumsjahres – wie die Aargauer Zeitung kontestierte - den berühmten Pädagogen Pestalozzi bemühen, setzen wir den begonnenen Ausflug ins Jahr 1848 fort: Der große Thurgauer Politiker, welcher der Vater der helvetischen Bundesverfassung ist, dem Johann Konrad Kern verdanken wir die Hinweise auf einen „ehrwürdigen Staatsmann und Bewunderer der Schweiz“. So bezeichnete der damalige Schweizer Botschafter Kern den in Wien mit schwerster Bürde beladenen in den Revolutionswirren stehenden Ministerpräsidenten Johann Philipp von Wessenberg.++

Mit dem vorigen Hinweis auf Pestalozzi wird die Wessenbergebene verbreitert. Es geht nun im Folgenden um ein Brüderpaar, um die Wessenberg´s!

Da eine Chronologie der Geschichte der berühmten Wessenberg´s im 19. Jahrhundert bereits von mir in mehreren Vorträgen (die im Internet auf der Homepage www.wessenberg.at nachzulesen sind!) abgehandelt wurde, so müssen sie in diesem Referat immer wieder mit Zeitsprüngen rechnen. Sie tun der Sache und der Information, welche rüberkommen soll aber keinen Abbruch!

Also 1809 schrieb der bewunderte und zu seiner Zeit oft arg verkannte Pestalozzi mit folgenden Worten an den Bruder Johann Philipp´s den berühmten Konstanzer Bistumsverweser Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg: „Hochwohlgeborener, hochwürdigster Herr, lieber, edler Menschenfreund!“ und am Schluss des Briefes steht (nachzulesen im Band 6 Sämtlicher Briefe Pestalozzis, erschienen im Orell Füssli Verlag Zürich, 1962 auf den Seiten 131,132): „Genehmigen Ihro Hochwohlgeboren und Gnaden die Versicherung meiner fortwährenden Ehrfurcht und Liebe , Pestalozzi.“

So mancher historisch Eingeweihte, oder gar „Wessenbergianer“,  würde jetzt wohl gern sagen, na ja der Ignaz Heinrich, der war ja auch was Besonderes, eben für den „schweizerischen Geist“, gegen die Tyrannen, seien sie von da oder von dort, oder gar von Rom! Das mag stimmen, denn es gibt noch mehr leading figures der Aargauer Jubiläumszeitung, welche viel mit Ignaz Heinrich zu tun hatten und vor allem- was hier wichtig scheint – zu tun haben wollten. Ich greife in mein Archiv der Neuen Züricher Zeitung und lese in der Ausgabe vom Wochenende 17./18.April 1992, dass zuallererst Amtsgeschäfte die Korrespondenz zwischen dem Administrator der schweizerischen Quart der Diözese Konstanz und dem im Aargau niedergelassenen Zschokke auslöste. Doch dann umfasst der Briefwechsel 40 Jahre. Beide hielte nicht nur die gemeinsame literarische Ader mit volkspädagogischem Einschlag zusammen, sondern die gleich bleibenden Interessen an der politischen Entwicklung des Landes, wie der Streit um römische und bischöfliche Erlässe im Zusammenhang mit dem neu geschaffenen Bistum Basel, die Badener Artikel, der Bischof Salzmann, die Wirren des Sonderbundkrieges und so weiter regten zur Mitteilsamkeit an.

Doch jetzt ist Vorsicht angesagt: Ich greife wieder über zum Bruder Johann Philipp und ich wage die Behauptung: Er hat mit der Schweiz und einem „Adel des Schweizertums“ genauso viel zu tun. Johann Philipp war in Luzern, in Vevey, in Bad Ragatz, in Zürich, in Basel und im Aargau – ganz gleich wo – oft und zur gleichen Zeit und mit Ignaz Heinrich zusammen. Sie wanderten, kurten und sie hatten gemeinsame Freunde, Bekannte und vor allem bekannte Größen der Schweiz als kontinuierlichen, fast permanenten persönlichen und familiären Kontakt. Freilich finden sich über den Kirchenmann in vielen Archiven Akten, Urkunden und Briefe zum aktuellen kirchlichen Geschehen. War er doch ein offener Gegner der Restauration und mit ihr auch etwa des konservativen Staatsrechtslehrers Karl Ludwig von Haller (1768-1854). Ja, in der Schweiz war es auch möglich den Generalvikar Wessenberg, z.B. im Vierwaldstätterkapitel zum „Weihbischof“ zu erklären, wenn auch diese Würde für einen designierten Nachfolger eines „Fürstbischofs“ nicht unbedingt ehrend sein müsste. Im Unterschied dazu hielt es Johann Philipp weniger mit den Kapiteln, den bischöflichen Kommissariaten, sondern er nahm seinen Bruder mit zu Treffen mit fürstlichen und königlichen Bekannten und Freunden – in den Bergen und an den Ufern der Seen von der Schweiz. So wanderte er zum Beispiel im September 1854 mit König Leopold von Belgien zwischen Lago di Como und Luzerner See herum und man vermutete in den damaligen Zeitungen sogar die Begleitung vom österreichischen Kaiser Ferdinand. Johann Philipp klärt uns aber über diese Presseente auf. Auch damals schien es fingierte und fiktive Interviews in der Presse zu geben, behauptete damals doch der Schreiberling, der Kaiser wäre umgehend mit Wessenberg zusammengetroffen. Wer hatte da wohl wen im „Blick“!!+

Es ist vorläufig genug charakterisiert, wie sich das Brüderpaar formierte und etablierte. Allerdings ließe sich durchaus ein Who is Who der damaligen Schweiz zusammenstellen! In unserem heutigen Vortrag geht es aber vor allem um die Taten, die vom Epochenjahr 1803 ausgehend zu einer grundlegenden Veränderung der Schweiz führen sollten.

Fangen wir damit an:

1803 erließ der geistliche Regierungspräsident des Bistums Konstanz eine Verordnung zur Verminderung der Feiertage im Kanton Aargau, wobei – wie es in der offiziellen Note heißt: das gleiche Ansuchen von der hohen Regierung des Kantons Aargau zugekommen ist. Besonderen Anstoß erregten die Feiertagseinrichtungen in dem „vorhin österreichischen Fricktal, wo noch die österreichische Einrichtung bestund“. Zur Rekapitulation: Das Bistum Konstanz (Ende 1827) erstreckte sich auf Gebiete von Bayern und Württemberg, dem Großherzog von Baden, den Fürsten von Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen, dazu in der Schweiz den Regierungen der Kantone Uri, Schwyz, Ob-und Nidwalden, Luzern, Zug, Zürich, Bern, Solothurn, Glarus, Appenzell Innerrhoden und Außerrhoden, Schaffhausen, St. Gallen, Aargau und Thurgau. Die so genannte Seelenzahl der katholischen Bewohner in den genannten Anteilen belief sich auf über anderthalb Millionen, die gesamte Geistlichkeit umfasste 6608 Personen, kam also auf etwa 233 Einwohner ein Kleriker! ++

Nun war damals nicht nur die Neuordnung der Schweiz auf Napoleons Programmzettel gestanden. Nein, es gab auch 1803 den Reichsdeputationshauptschuss zu Regensburg, wo die alten Feudalprivilegien endgültig beseitigt werden sollten. Die reichsständischen geistlichen Fürsten verloren die Landesherrschaft. Und für Ignaz Heinrich von Wessenberg war dies Anlass, die nun offenen Vermögen von den habgierigen Fingern der damals so säkularisationsfreudigen Dynastien zu retten, damit das eingezogene Kirchenvermögen einem besseren Zwecke, als fürstlicher Vererbung oder Vergeudung zukommen könne und solle. Human-soziale, pädagogische, wissenschaftliche Anstalten, das waren die Ziele Wessenberg´s und „seine Saat trug tausendfältige Früchte“ schrieb 1863 ein illustriertes Familienblatt, welches mir unlängst von der tüchtigen Journalistin der Botschaft  Irene Meyer als besonderer Fund zugeeignet wurde.

In den Quellen zur Schweizer Geschichte entdecken wir im Briefwechsel Wessenbergs mit dem Luzerner Stattpfarrer Thaddäus Müller(1763-1826) eine Besonderheit, nämlich ein so genanntes Konkordat (eine Übereinkunft in Geistlichen Dingen) zwischen der Luzerner Regierung und der Konstanzer Geistlichen Regierung. Nach dem Ende der Helvetik im Frühjahr 1803, als demokratische gewählte „liberale“ Regierungen in den Schweiz Einzug hielten, da war es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wenn die komplizierte kirchliche Neuorganisation wirklich durchgreifend und funktionsfähig war. Wessenberg´s Verdienst mit diesem Eckstein seiner Bistumsverwaltung überdauerte in Luzern den jahrzehntelangen erbitterten Kulturkampf, alle Regierungsumstürze (auch die Schwierigkeiten mit Rom!, ja – dieses Wessenberg-Konkordat vom 19. Februar 1806, das die römische Kurie kaum duldete, schuf Denkspuren, über die wir heute immer noch grübeln könnten. Wie war das mit den liberalen Kräften? Nach aristokratisch-patrizischen Regierungen kamen radikal-liberale. Verdienste waren die Hebung der Bildung und der Wirtschaft. Weniger glücklich war die Art mit dem Volk umzugehen; denn oft setzte sich an Stelle der alten Aristokratenoligarchien eine das Volk bevormundende Advokaten- Bürokratenherrschaft. Diese Herren mussten um die 40iger Jahre des 19. Jahrhunderts einer bäuerlich-demokratischen Gegenbewegung weichen. Der Wessenberg, der war alles andere als ein nostalgischer Baron, so schrieb Victor Conzemius in der Buchrezension über den Briefwechsel Wessenberg und Zschokke in der NZZ vom Jahre 1992. Er war grundsätzlich gegen Vorrechte der Geburt, sondern er wünschte sich ein permanentes Wetteifern der Stände um eine bessere Bildung. Denken Sie bitte nicht an Vergleiche mit heute, mit einer Eventkultur oder den Bildungsbürger – eine allmählich aussterbende Spezies!!

Gerade hier könnte jedoch aufgezeigt werden, dass Verkürzungen des Geschichtsbewusstseins zum Verlust der Kompetenz und kritischen Selbstorientierung führen, was Unsicherheiten und Unmündigkeiten der Menschen verursacht, die Gefühle von Ohnmacht und Wut nähren. Aufgabe der Geschichte ist es, gerade darüber aufzuklären und die Menschen durch Wissen vorsichtiger und selbstständiger zu machen.

Ich weiche nun von der schweizerischen Reformvariante Ignaz Heinrich´s ab und komme auf seinen Bruder Johann Philipp. Wir wissen von seinen guten Kontakten und vor allem, den Gefühlen für die Schweizer, und dann konkret zu denen, die sich auf dem internationalen Parkett schlugen, wie etwa Johann Conrad Kern als Botschafter in Paris. Anlässlich der internationalen Konferenz über die Regelung der Neuenburger Frage in Paris 1857 prallte in einer sehr eindrücklichen Form erstmals der Konservativismus eines Preußentums mit der neuen liberalen Demokratie der Schweiz zusammen u. aufeinander, der Schweiz nämlich, die ein Recht geschaffen hat, das sich jetzt erstmals nach außen bewähren musste. Und wir haben die Versicherung Wessenbergs schriftlich, dass die Bewährung in seinen Augen gelang. Er schrieb an seinen Bruder die Worte: „Die Söhne Tells können sich nun gütlich tun und ihren Weibern erzählen wie mutig sie waren. Dr. Kern ist offenbar die ausgezeichnete Figur....+

Die Entwicklung in den mediadisierten Kantonen verlief im großen und ganzen sehr ähnlich, aber sicherlich können wir von den außergewöhnlichen Umständen des Kantons Aargau ausgehen. Zur vorigen Feststellung von dem Diplomaten Wessenberg passt ein Wort das in diesem Jahr aus der Ecke von Königsfelden gerufen wurde. Im Rahmen eines weiteren Jubiläums im Jahre 2003, nämlich den vor 350 Jahren auch im oberen Aargau ausgetragenen „Bauernkriegen“, sprach der dem alten historischen Ort benachbarte Klinikchef Mario Etzensberger: Geschichte und Sprache sind die Richtlinien, an den man ablesen kann, wo man steht und wohin man geht!

Wir dürfen nicht zu sehr in Details gehen, aber es sei nur erwähnt, dass wir gerade in der Schweiz immer wieder auf das Geschichtsbewusstsein im Hinblick auf das „Volk“ verwiesen werden. Und so ist die Mediation und die Diplomatie eine Sache, die Wörter Wessenbergs über „die Söhne Tells, die Weiber und die ausgezeichnete Figur Kerns“ wiederum eine Sache, aber die wesentliche Sache bleibt die Tatsache, dass es Worte gibt und immer gab, die die Freiheit in permanente Erinnerung rufen. Und so hat also zu Königsfelden in diesem Jahr der Historiker Jürg Stüssi-Lauterburg auf sein mit Kollegen verfasstes Buch zur Gedenkfeier für den Bauernkrieg von 1653 hinweisen können. Der Titel lautet: „Verachtet Herrenpossen! Verschüchet fremde Gäst!“

Und so stellen wir fest: die Schweizer haben in der Geschichte ein Forscherethos, das jede Individualität berücksichtigt. Und diese Individualität spiegelte sich aus den mittelalterlichen Rechtzuständen sehr lebhaft in kleinen Verhältnissen in den Rechtsverhältnissen eines Dorfes. Und viel Unverständnis entstand in der Schweiz bei dem modernen Recht, auf das ein Jurist wie Kern hinauswollte, nämlich das Staatsrecht als Ideenentwurf. Man wollte die konkreten rechtsbeständigen Zustände als Basis ansehen und hatte Angst vor dem Verlust der kantonalen Souveränität im neuen Bundesstaat 1848. Geschichtslos argumentierende Fortschrittler haben in der Schweiz nicht so viel Zuspruch, so könnte man die Erfahrung dieses Jahres zusammenfassen, ganz gleich, ob es um ein 350iger oder ein 200derter Jubiläum gegangen ist! Und das ist ein Gefühl, welches ein Volkstum adelt!

Immer wieder hören wir, dass es Metternich und Le Harpe mit dem Zaren Alexander und dann vielleicht noch irgendeinem großen Franzosen gefallen hat, wenn er der Schweiz, sei es nun zu einer territorialen bis hin zu einer kulturellen Souveränität verhilft. Doch das ist eine Propaganda, die ganz schräg an den wirklichen Verhältnissen vorbeiläuft. Es kann mir niemand einreden, dass die Geschichte Europas alleine von Opportunisten geschrieben werden darf. Es ist richtig, wenn man sagt, dass die aargauische Kirchenpolitik den Spuren eines Josephinismus (was immer darunter hier verstanden wird!) und des letzten Konstanzer Bistumsverwesers Ignaz Heinrich von Wessenberg folgte. Es ist passiert – man hat die reformierte wie die katholische Staatskirche in den Dienst der aufgeklärten Kulturpolitik genommen und die katholische Kirche weitgehend aus ihren Bindungen zu Rom herausgelöst. Dem Bistum Basel trat der Aargau erst 1829 bei, da ihm die Rechte des Staates gegenüber der Kirche vorerst nicht gewahrt schienen. Es war so ähnlich wie Leopold von Ranke in seiner Reformationsgeschichte über einen Brief Calvins schrieb, worin gestanden hat: „ Es wäre ehrenvoller gewesen, die geistliche Herrschaft von Rom zu dulden, als die von Bern!+

Warum möchte ich Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860), der nach seiner Ruhigstellung als Kirchenreformer sogleich in die Politik geschritten ist und den entscheidenden Anstoß zur „badischen Verfassung“, der ersten konstitutionellen Verfassung Deutschlands gegeben hatte,  in einen Zusammenhang mit den großen Aargauern Pestalozzi (1746-1827) und Zschokke (1771-1848) stellen. Also erst einmal hat das schon vor einigen Jahren sehr erfolgreich und anschaulich der Historiker Werner Bänziger in seinem die Autobiographien der genannten Persönlichkeiten vergleichend und reflektierenden, sowie analysierenden Buch mit dem Titel: „Es ist freilich schwer, sein eigenen Bild mit Treue zu malen...“ getan. Ich steige also nur in Fußstapfen, ob ich darin stecken bleibe, ich glaube eher nicht!

Die Helvetik hatte Zschokke und Pestalozzi in Luzern (das nach Aarau Hauptstadt der Helvetischen Republik) zusammengeführt. Es war dann in Stans/Nidwalden, wo man wieder mit je unterschiedlichen Tätigkeiten aufeinander stieß. Eine sehr labile Zeit und sehr schwierige Verhältnisse vor Ort (Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Österreich im 2. Koalitionskrieg, katholische Inner-und Ostschweiz, die den helvetischen Zentralstaat ablehnte und zu Österreich tendierte. Pestalozzi verlagerte vorläufig seine Tätigkeitsfeld nach Burgdorf und Yverdon. Zschokke wurd bald darauf Regierungsstatthalter in Basel, integrierte sich nach der Mediation in den neuen Kanton Aargau und nahm dort lange Jahre politische Mandatare wahr. Publizistisch unterstützte Zschokke Pestalozzi, und die Wessenbergbrüder, wie stehen sie in dieser Phalanx? Ein historisch noch nicht ganz verifiziertes Episödchen kann hier ein Bild geben.

1804 vermählte sich der Diplomat Johann Philipp in Frankfurt mit dem Bankierstöchterchen Marie Gertrude  Mülhens. Und jetzt kommt etwas sehr Pikantes. In der Folge dieser Allianz mit einem sehr reichen Frankfurter Bürgershaus (die Heirat wurde vom Kaiser persönlich genehmigt!) trat ein junger Mann in Erscheinung, der ein Cousin von Wessenberg´s junger Gattin gewesen sein muss. Pestalozzi schreibt aus Iferten/Yverdun(?) am 22. Jänner 1809 an Ignaz Heinrich: „Ich freue mich, dass ich Ihnen fortwährend berichten kann, dass die Rohheit und Wildheit, die Böswilligkeit, die den jüngen Mülens auszeichneten, da er zu uns kam, sich immer mehr zu ändern anfängt. An Talent fehlt es ihm gar nicht. Ich hoffe er wird uns immer mehr Freude machen.“ Tja, das ist das Leben. Der Bruder Johann Philipp bittet offenbar Ignaz Heinrich sich um seinen neuen verschwägerten Problemfall zu kümmern und dies, ja dies ist das Parademodell von dem Erziehungsguru seiner Zeit. Die Reichen und die Gescheiten finden sich bei Pestalozzi ein und es ist gar nicht so unmoralisch, wenn man sich das auch als ein Experiment vorstellt. Wie geht das aus, wenn man diesen verwöhnten Teufelsbraten, der dieser Mülhens aus Frankfurts Bankierhaus gewesen sein muss, wenn man ihn zum progressivsten und exponiertesten Erzieher seiner Zeit befördert!? Das Histörchen wird sicher in einem schönen Erzählband zur Familiengeschichte einmal einen Platz finden!

Jetzt zu Zschokke und da möchte ich zuerst Johann Philipp zu Worte kommen lassen, Ignaz Heinrichs innige Beziehung zu ihm ist ja im Wesentlichen bekannt. Was sagt aber der Bruder und dann noch dazu zum Aargauer Klosterstreit, einer Materie, die ich in diesen Betrachtungen, die wie einst der Aargau selbst, in dem Fleckerlteppich meines Referates nicht unerwähnt lassen darf.  Hierbei decken wir eine Differenz nicht unerheblichen Grades auf, zwischen den Brüdern, dem Aufklärer und Liberalen, der sich um 1841/42 eine Menge Gedanken machte, aber keine wahrhaften Sorgen, so wie scheinbar sein Bruder, der da am 26. Jänner 1841 schreibt: „Die Klostergeschichte der Schweiz, das Dekret zur Aufhebung der Klöster durch den Aargauischen Großen Rat, scheint keiner Gesellschaft von Staatsmännern würdig, bestraft sollen nur die Schuldigen werden. Wenn sich die Klöster manchen hatten zu Schulden kommen lassen, so dürfte auch nachgewiesen werden, dass solches zum Teil in Folge der vielen Neckereien der protestantischen Behörden statthatte, wobei selbst der ehrenwerte Herr Zschokke nicht ganz unschuldig sein mag. Ich bin nicht gewöhnt den Klöstern das Wort zu reden, aber noch weniger kann ich billigen, wenn ganze Körperschaften par le bon plaisir d´un parti ohne weitere Prozedur verdammt und vertilgt werden.“

Und fast zwei Jahre später, nämlich im Dezember 1842 schreibt Johann  Philipp wieder an seinen Bruder: „Zschokkes Urteil über die Klosterfrage ist auf keinen Fall juridisch, dass die Klöster nichts leisteten, was sie hätten leisten sollen, darüber ist jedermann einverstanden....“

Ganz anderes klingt es bei Ignaz Heinrich – in seinen Worten, die er direkt an Zschokke richtet: „Auf Ihr neues Werk freue ich mich zum voraus. Es wird ohne Zweifel beitragen, den wahren Herzensfrieden unter den Menschen zu fördern.“

Und Zschokke – nachzulesen in Othmar Pfyls Briefwechselausgabe der geschichts-forschenden Gesellschaft der Schweiz, herausgegeben 1990 in Basel auf Seite 406: „Ich wüsste wohl ein Mittelchen ...genug mit diesem Geschwätz, wozu Sie lachen werden. Aber es ist doch auch das Lachen-Erregen ein kleines Verdienst in Zeiten der Besorgnis und Angst. Und wie gern möchte ich Sie heiter wissen! Bleiben Sie mir, was ich Ihnen bin, liebend Ihr treuer Freund Heinrich Zschokke.“

Da ist ein Auseinanderklaffen von Gefühl und Verdienst. Über einen Adel des Schweizertums waren sich aber beide Brüder einig! Vielleicht ist eine Passage zu einem extensiv geführten Volksveto gegen Gesetze ein Verbindungsglied zwischen Johann und Ignaz von Wessenberg. Da schreibt Ignaz an Zschokke: „Das Volksveto gegen Gesetze die ein Grosser Rat von mehr als 100 Mitgliedern sanktioniert, ist in meinen Augen ein Unsinn. Weiter kann man es mit dem Volk nicht bringen, als dass es mit Einsicht und Redlichkeit gute und würdige Stellvertreter wählt. Wer wird aber wollen Volksvertreter sein, wenn das Volk ihm alle Tage einen Tritt in den Hintern geben kann.“

Eine Binsenweisheit von der wir uns ja auch heute nicht besonders schockieren lassen! Ergänzend zur Klostergeschichte des Aargaues eine zweideutige persönliche Bemerkung von mir: Das zweite Obergeschoß des Fricktaler Museums zeigt sakrale Kunstobjekte aus dem Collegialstift St. Martin, der Johanniterkommende, dem Kapuzinerkloster und dem Kloster Olsberg. Fast könnte man Schmidheinys Credo anfügen: „In Gesellschaften die scheitern, können Unternehmen nicht erfolgreich sein.“+

Mit einem Seufzer möchte man hier den Vortrag beenden, jedoch die Wessenberg lassen Sie noch nicht gehen. Ihre Eindrücke zur Schweiz, in der Schweiz, die sind auch heute noch nicht vom Tisch zu wischen, sie sind klar und haben den Verstand, der sich in vielen EU-Gremien und in vielen Konferenzen in ganz Europa vermissen lässt. So schreibt Johann Philipp an seinen Adlatus von Zürich aus am 5. Mai 1852:

„Ich glaube, unsere Ministerialräthe würden hier, wo frei gesprochen wird, an mancher Table d´hôte mehr lernen, als in den Ministerialbüros.“ 

Ein weiteres Wort, das vielleicht noch deutlicher in die Richtung EU transportiert werden könnte – über alle Jahrhunderte hinweg –locker sozusagen: „Eine Stellung verlassen, die bisher nicht ohne Vorteil war, bevor man sicher ist, in eine bessere ohne Verzug eintreten zu können, ist eine bedenkliche Handlung.“

Das ist keine Stellungnahme zur EU-Mitgliedschaft der Schweiz gewesen, sondern eine Bemerkung zu den deutschen Zollverhandlungen im Jahre 1852. Und zur selben Zeit – wir verlassen uns auf das Gefühl, da lese ich in einem Brief von der „schönsten Landschaft in der Schweiz, wo man wirklich für einige Augenblicke berauscht durch das großartige Schauspiel, welches alle Paraden und Marsfelder (champs de Mars) in Schatten stellt, die dumme Außenwelt  vergessen könnte“. Johann Philipp spricht von dem aktuellen Geschehen seiner Zeit und von seinen Erinnerungen an das erste französische Nationalfest am Marsfelde in Paris 1790, an dem er sich einen gründlichen Schock geholt hatte. Nie wollte er seitdem Geschäftstätigkeit mit Gewalttätigkeit in Verbindung gebracht sehen. Leider blieb ihm das nicht erspart, auch nicht in der Schweiz und auch nicht im Aargau. Trotzdem möchte ich persönlich betonen, dass die Schweiz heute eine verfassungsmäßige Modellfunktion für eine multikulturelle EU liefern könnte. Die Delegation der Kompetenzen der Sprachen- und Kulturpolitik an die Kantone war eine der bedeutendsten Voraussetzungen für die Erhaltung der Vielfalt in der Schweiz.

Paul Valery (1871-1945) sagte einmal: „wenn wir an das frühe 19. Jahrhundert denken, an die Krönung Napoleons zum Kaiser, an die Niederlegung der heiligen römischen Kaiserkrone in Wien – gerade da dazwischen wurde die „voltaische Zelle“ ( Graf Alessandro Volta, 1745-182) entdeckt, und das hat ganz andere Auswirkungen gehabt als die Schlacht bei Jena und Auerstedt, obwohl das unsere Geschichte ist.“

Ich würde sagen, wir können Valery ein Beispiel geben, wie Geschichte als Bedürfnis nach Gedächtnis ein Gefühl von Heimat geben kann, das auch der heutigen „elektrischen Zelle“ entsprechen sollte: Napoleon I hat Grenzen geschaffen und dann kam der Dialog das Miteinander-Durchsprechen, -Durchdenken, -Durchprüfen und manchmal auch DURCHPRÜGELN, aber dieser fortwährende Dialog über die Zeiten und alten Grenzen ist nicht nur zum einzig gangbaren Weg der Wissenschaft geworden, sondern auch zum „Königsweg der Politik“.

Ganz zum Schluss eine geografische und topografische Beschreibung:

Formschöne Jurahöhen umkränzen die Dörfer, steile Rebberge, im Hintergrund der wuchtige Stock des Mandacher Bucks und der „geheimnisvolle Wessenberg.“

©Prof. Peter Heinrich v. Wessenberg, 18.10.03   


+ Der als konziliante gezeichnete Innenminister Baron von Doblhoff galt als liberales Aushängeschild der Regierung Wessenberg

++ Albert Schoop, 2bändige Biographie Kerns, Huber Verlag Frauenfeld, Bad. 1 „Jurist, Politiker, Staatsmann“, 1968, S.266f

+ Philipp Anton von Segessers Luzerner „Wochen Zeitung“ wird es wohl nicht gewesen sein. Sie wurde von diesem Ende 1853 gegründet und brachte es auf nur 53 Nummern!! –Siehe bei Victor Concemius Biographie, Benziger, Zürich, 1977

++ Über den sog.“Schweizer Quart des Bistums Konstanz ausführlicher bei Prof.Dr.F.X.Bischof, Theol.Profile: i.H.v.Wessenberg, Kirchenreformer ...,Uni.verl.Fribourg,1998, S.19ff

+ Über die „Neuenburger Comödie“ in Brief 917 der Ausgabe der Briefe J.Ph.v.Wessenbergs, ediert von Kurt Aland, erschienen bei Herder 1987

+ L.v.Ranke, Geschichte der Reformation, Phaidon Wien, S.1236

+ In NZZ v. 11.10.03, Milliarden Trust Stephan Schmidheinys in Lateinamerika