Wessenberg im Licht der heutigen Forschung 

Als Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg (1774-1860) vor zweihundert Jahren, am 20. April 1802, sein Amt als Generalvikar des      Bistums Konstanz und Präsident der Konstanzer Geistlichen Regierung antrat, war er in jene Stellung getreten, in der er eigenem Zeugnis zufolge seinen Lebensberuf erkannte: „Eine wahre Verbesserung der kirchlichen Zustände war die höchste Idee, für deren Verwirklichung ich mir Sinn und Kraft zutraute.“ Vom Konstanzer     Bischof Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg (1744-1817) mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, hat er  in der Folge als Generalvikar (1802-1815) und Verweser (1817-1827) das Bistum Konstanz geleitet, bis die weiträumige  Diözese im Zuge der Neuordnung der katholischen Kirche Deutschlands 1821/27 supprimiert worden ist.

In diesen fünfundzwanzig Jahren hat Wessenberg eine intensive und vielseitige reformerische Wirksamkeit im Geiste der Katholischen Aufklärung entfaltet und in jener Umbruchszeit zu    Beginn des 19. Jahrhunderts auf den deutschen und schweizerischen Klerus und Katholizismus in hohem Mass prägend gewirkt. Sein Reformwirken ist dabei zu verstehen auf dem Hintergrund der geistigen, politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die Aufklärung, Französische Revolution und Säkularisation an die katholische Kirche stellten. Viele seiner Reformanliegen wirkten über die Zeit seiner Tätigkeit hinaus und wurden insbesondere von dem durch seine "Schule" gegangenen Klerus nach dem Ende des Bistums Konstanz in die Nachfolgediözesen   wei­tergetragen. Eigentliche Pionier­arbeit leistete Wessenberg im Bereich der Priesterfortbildung. Die von ihm neu "entdeckten" und für das Bistum Konstanz angeordneten Pastoralkon­ferenzen entwickelten sich im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Mittel der priesterlichen Weiterbildung. Im deutschen Sprachraum erfolgte ihre Einführung in den Bistümern anfänglich unter starker Nachahmung des Kon­stanzer Modells. Ebenso bedeutsam waren seine vorbildli­chen liturgischen Reformen. Mit diesen hat er manches vorweggenommen, was erst wieder durch die Liturgiereform des Zweiten Vatikani­schen Konzils als richtig anerkannt und bestätigt worden ist. Inhaltliche Parallelen zeigen sich insbesondere im Bemühen um eine einfache, verständliche Liturgie, an der die Gläubigen aktiv Anteil nehmen können, in der Aufwertung der Wortkündi­gung, in der weitge­henden Einführung der Volkssprache in die Liturgie, in der Förderung der Heiligen Schrift. Die überkommenen Formen der barocken Volksfrömmigkeit lehnte er, wie neuere Untersuchungen belegen, nicht grundsätzlich ab, ordnete diese aber dem Pfarrprinzip unter und war bestrebt, Missstände bei Bittgängen und Wallfahrten auch gegen Widerstand zu beseitigen. Aufge­schlossen gegenüber der Welt und Kultur seiner Zeit, auch konfessionell irenisch gesinnt, war Wessen­berg keines­wegs ein Befürworter einer von Rom losgelösten deutschen Natio­nalkir­che.

Schisma­tische Bestre­bungen, wie den Deutschkatholizis­mus, hat er vielmehr zeit­lebens abgelehnt. Doch war sein Kirchenverständnis von der reichskirchlichen Tradition geprägt. Er     bemühte sich deshalb um eine möglichst eigen­ständige Neu­organi­sa­tion der deut­schen    katholi­schen Kirche mit einem  Primas an der Spitze. Vor allem dieser „Episkopalismus“ war es denn auch, der ihn beim Luzerner Nuntius und in Rom in argen Misskredit brachte und alle Versuche scheitern ließen, ihn als Bischof für das neuerrichtete Freiburger Erzbistum bzw. für das Rottenburger Bistum in Vorschlag zu bringen. Da die kirchliche und theologische Entwicklung des 19. Jahrhunderts     Wessenbergs Denken und Handeln entgegengesetzt verlief, wurde er in der Sicht einer standpunkt-verpflichteten ultramontanen    Geschichts­schreibung zu einer der umstrittensten Persön­lichkeiten des deutschsprachigen Katholizismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­derts. Über Jahrzehnte hinweg blieb er als
„Febronianer“ und „unkirchlicher Rationalist“ verschrieen. Erst in jüngster Zeit setzt sich eine grundlegende Neubewertung durch.

Diese Neubewertung beruht vor allem auf zwei Faktoren: Dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) und dem dadurch bedingten innerkirchlichen „Klimawechsel“ sowie einer intensiven Ausein­andersetzung mit den historischen Quellen. Einen wichtigen Bestandteil neben den Quellen in staatlichen und kirchlichen Archiven bildet dabei der umfangreiche private Nachlass Wessenbergs, der zu ungleichen Teilen im Stadtarchiv Konstanz, in der Universitätsbibliothek Heidelberg und in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart verwahrt wird. Seine Erschließung begann im Anschluss an den 100. Todestag Wessenbergs mit der von Kurt Aland und Wolfgang Müller herausgegebenen Reihe Unveröffentlichte Manuskripte und Briefe. Von den erschienenen dreieinhalb Bänden vereinigt ein erster Teilband Autobiographische Aufzeichnungen (Bd. I/1,1968; Bd. I/2 nicht       erschienen) in der Hauptsache autobiographisches Material. Darunter befinden sich Auszüge aus  Wessenbergs verschollener Autobiographie „Meine Erlebnisse“, die Josef Beck, dem Verfasser der  bisher einzigen Gesamtbiographie Wessenbergs (1862, 1874) noch vorgelegen hat. Die Reisetagebücher (Bd. IV, 1970) enthalten Wessenbergs   Berichte über seine ausgedehnten Reisen durch Deutschland, die Niederlande, Frankreich, die Schweiz und Italien in der Zeit zwischen 1817 und 1846, während die Kleinen Schriften (Bd. III, 1979) Aufsätze und Beiträge vorwiegend zu den Themen Kirche und Staat, Rom und das Papsttum, Politik und öffentliches Leben, Pädagogik und Bildungswesen vereinigen. Eine noch wenig ausgewertete Quelle stellen Die Briefe Johann Philipps von  Wessenberg an seinen Bruder (Bd. II, 1987) dar.   Zwischen dem Konstanzer Generalvikar und     seinem älteren Bruder, der eine diplomatische und ministerielle Laufbahn in österreichischen Diensten verfolgte, hat eine umfangreiche Korrespondenz bestanden, in der politische und familiär-private Angelegenheiten gleichermaßen abgehandelt    wurden. Bedauerlich ist nur, dass Ignaz Heinrichs Briefe nicht mehr vorliegen. Es ist anzunehmen, dass sie von Johann Philipp vernichtet wurden. Mit diesem Editionsunternehmen wurden wichtige, bisher nicht publizierte Archivalien erschlossen, auch wenn das Ziel der Herausgeber, „das Material darzubieten, das für eine abschliessende Würdigung I. H. v. Wessenberg erforderlich ist“ (I/1 6), bei weitem nicht erreicht ist.

Insbesondere harrt die umfangreiche Korrespondenz Ignaz Heinrichs von Wessenberg noch weitgehend einer Edition. Vorbildcharakter können hier die beiden in den Quellen zur Schweizer Geschichte erschienenen, mustergültig kommentierten        Editionen der Briefe Wessenbergs mit dem  protestantischen Schriftsteller und liberalen Kulturpolitiker Heinrich Zschokke (1771-1848) sowie mit dem Luzerner Stadtpfarrer Thaddäus Müller (1763-1827), einem vertrauten Mitarbeiter Wessenbergs, beanspruchen. Beiden Korrespondenzen kommt innerhalb der Gesamtkorrespondenz eine bedeutsame Stellung zu. Der 1990 von Rudolf Herzog und Othmar Pfyl vorgelegte Briefwechsel 1806-1848  zwischen Ignaz Heinrich von Wessenberg und Heinrich Zschokke zeigt häufig einen überraschend persönlichen Wessenberg und stellt insgesamt eine geistesgeschichtliche Dokumentation von hohem Wert dar. Analoges gilt für die 1994 in zwei  Bänden erschienene Edition von Wessenbergs Briefwechsel mit dem Luzerner Stadtpfarrer und Bischöflichen Kommissar Thaddäus Müller in den Jahren 1801 bis 1821. Diese von Manfred Weitlauff in Zusammenarbeit mit Markus Ries herausgegebene Korrespondenz bietet detaillierten Einblick in Wessenbergs alltägliche Tätigkeit als Generalvikar. Sie belegt eindrucksvoll die gegenseitige Hochschätzung der beiden Briefpartner und deren Einsatz für eine qualitative Hebung der Seelsorge wie für eine zeitgemässe Priesterbildung. Sie dokumentiert aber auch die damit verbundenen Schwierigkeiten vor Ort und zeigt die zunehmende Entfremdung  zwischen Wessenberg/Müller auf der einen und dem   Luzerner Nuntius Testaferrata auf der anderen Seite.

Neben der Erschließung von Quellenmaterial erhielt die Wessenberg-Forschung seit den 1960er Jahren wichtige neue Impulse durch eine Reihe historischer, insbesondere kirchenhistorischer Untersuchungen. Eine auch nur annähernd vollständige Aufzählung ist hier nicht möglich. In Auswahl sei wenigstens hingewiesen auf den Konstanzer Band der Helvetia Sacra (1993) sowie auf die Arbeiten von Wolfgang Müller (zahlreiche Aufsätze zu Wessenberg u.a. in den „Katholischen Theologen Deutschlands“ 1975), Erwin Keller (Die Konstanzer Liturgiereform unter I. H. v. Wessenberg 1965; das Priesterseminar Meersburg zur Zeit Wessenbergs 1977/78), Rudolf Reinhardt (Beiträge zur oberrheinischen Kirchenprovinz und zur  Errichtung des Bistums Rottenburg), Karl-Heinz Braun (Herausgeber des Bandes „Kirche und Aufklärung - Ignaz Heinrich von Wessenberg“ 1989; Hermann von Vicari 1990), Franz Xaver  Bischof (Das Ende des Bistums Konstanz 1989; weitere Beiträge u.a. zur Berichterstattung des Luzerner Nuntius 1990, zur Priesterfortbildung 1995 und zu Dalbergs und Wessenbergs Konkordatspolitik 1997), Manfred Weitlauff (Beiträge u.a. zu Wessenbergs Bemühungen um die Priesterbildung aufgezeigt am Beispiel der Korrespondenz mit dem Luzerner Stadtpfarrer Taddäus Müller 1990 und zu Wessenbergs Wirken als      Generalvikar 1989, 1995), Franz Kohlschein (Studien zu den ersten Gesang- und Gebetsbüchern der katholischen Aufklärung 1993), Werner Bänziger (Die Autobiographien von Pestalozzi, Zschokke und Wessenberg 1996) und Dominik Burkard (Staatskirche – Papstkirche – Bischofskirche 2000). Die Erforschung der kirchlichen und kirchenpolitischen Tätigkeit Wessenbergs ist damit zu einem guten Teil geleistet.

Noch weitgehend unerforscht sind dagegen Wessenbergs letzte      Lebensjahrzehnte. Der Konstanzer Bistumsverwesers zog sich nach 1827 zwar ins Privatleben zurück, blieb aber ein scharfsichtiger Beobachter der kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Als solcher entwickelte er eine vielseitige schriftstellerische Tätigkeit, die in ihrer Gesamtheit noch  keineswegs ausgewertet ist, während sein dichterisches Werk - Wessenberg publizierte 1834 bis 1854 in sechs Bändchen im Cotta-Verlag eine Auswahl seiner Dichtungen - neuerdings von Klaus  Oettinger gewürdigt worden ist (in: Die Bischöfe von Konstanz 1988 und in: Braun,  Kirche und Aufklärung 1989). Nur noch einem      engeren Kreis bekannt (sieht man einmal von Konstanz ab) sind Wessenbergs Aktivitäten als Förderer von Künstlern und Künstlerinnen wie der Malerin Marie Ellenrieder (1791-1863) und sein soziales   Engagement. Mit der Erforschung des „späten Wessenberg“, der Edition der wichtigeren Korrespondenzen, der Untersuchung der zeitgenössischen Rezeption seines breitgefächerten Reformwerks durch die volkskirchliche Basis und einer Darstellung der Wirkungsgeschichte Wessenbergs sind   abschließend einige Desiderate heutiger Wessenberg-Forschung genannt. Mit ihrer Aufarbeitung wären zugleich wesentliche Voraussetzungen für eine kritische Gesamtbiographie Wessenbergs geleistet.

Franz Xaver Bischof